Soziale Interozeption

Ein Plädoyer für die BEHANDLUNG PSYCHISCHER ERKRANKUNGEN DURCH DEN KÖRPER IN EINEM SOZIALEN UMFELD

Übersetzt von Luise von Münchhauen, editiert von Marvin Däumichen

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Editiert von Clara Schüler & Lucca Jaeckel

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  • Mai 1, 2020
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EIN PLÄDOYER FÜR DIE BEHANDLUNG PSYCHISCHER ERKRANKUNGEN DURCH DEN KÖRPER IN EINEM SOZIALEN UMFELD DAS WACHSENDE FELD DER SOZIALEN INTEROZEPTION – IN DEM UNTERSUCHT WIRD, WIE SOZIALE EMOTIONEN AUS DER SUBJEKTIVEN BEURTEILUNG VON KÖRPERLICHEN ZUSTÄNDEN ENTSTEHEN – VERLANGT NACH EINER UMBENENNUNG PSYCHISCHER GESUNDHEITSPROBLEME IN „SOZIALE GESUNDHEITSPROBLEME” UND LIEFERT GRUNDLAGEN FÜR NEUE FORMEN DER VERKÖRPERTENSOZIALEN BEHANDLUNG, EINSCHLIESSLICH PSYCHEDELISCH-UNTERSTÜTZTER THERAPIE. UM MEHR DARÜBER ZU ERFAHREN, HABE ICH MIT FORSCHER:INNEN DER UC SAN DIEGO, DES SOCIAL DEVELOPMENT LABORS DER UNIVERSITY OF UTAH, UND DER UNIVERSITÄT ZÜRICH GESPROCHEN.

Bei der Untersuchung eines  Gehirnareals, das Insula genannt wird, erkannte der Neurowissenschaftler John Allmann zum ersten Mal, dass Selbstwahrnehmung und soziale Wahrnehmung Teil derselben Funktion sind.1 Die Insula liegt in der Tiefe der Sulcus lateralis, einem als Insel getarnten Verbindungszentrum, und ist eine der Hauptstrukturen des Gehirns, die für die Übersetzung von körperlichen Zuständen in soziale Emotionen verantwortlich ist. Ihre Aktivität beginnt ab dem Moment unserer Geburt, indem sie intime Berührungen in Gefühle der Freude umwandelt oder den harschen Ton eines Elternteils in Gefühle der Scham. Wenn wir als Kinder keine angemessene Fürsorge erhalten, kann sich die Vermittlung der Beziehung zwischen unserem Körper und sozialen Emotionen durch die Insula auf maladaptive Weise verfestigen, was im späteren Leben zu einer Neigung zu psychischen Problemen führen kann.2 Es finden sich zunehmend Hinweise darauf, dass es möglich sein könnte, diese Beziehung zu verändern, da die Insula auch bei heilsamen Praktiken wie Achtsamkeitsmeditation, Körpervertrauen und psychedelisch-unterstützter Therapie eine Rolle spielt. Zusammengenommen deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass die Verbindung zwischen Körper, Selbst und sozialen Emotionen eine größere Rolle für die psychische Gesundheit spielt, als wir vielleicht denken. Dies macht deutlich, dass es mehr Therapieformen braucht, die soziale Emotionen direkt über den Körper anvisieren.

DAS KÖRPERLICHE SELBST

Die Hauptfunktion der Insula wird Interozeption genannt. Sie hilft uns, zu erkennen, was wir erleben, basierend auf dem, was wir empfinden. Die Interozeption ermöglicht es uns, einen „leeren Magen” als körperlichen Hunger oder „Schmetterlinge im Bauch” als Aufregung oder Angst zu interpretieren. Wie bereits erwähnt, entstehen aus diesem Prozess auch soziale Emotionen. Doch trotz der Verbindung zwischen Interozeption und sozialen Emotionen wurde den sozialen Ursprüngen der Interozeption bisher wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt.

Die Pionierarbeit von Kristina Oldroyd am Social Development Labor der University of Utah legt nahe, dass frühe soziale Erfahrungen einen erheblichen Einfluss auf  Bereiche des Gehirns haben, die für die Interozeption verantwortlich sind, indem sie die Entwicklung des körperlichen Selbst beeinflussen. Oldroyds Forschungsteam hat herausgefunden, dass eine unsensible elterliche Fürsorge – die eine inkonsistente Reaktion auf die Bedürfnisse eines Kindes oder die völlige Ablehnung von Beschwerden mit sich bringt – die Fähigkeit eines Kindes, genaue Repräsentationen  von Körperempfindungen zu entwickeln, beeinträchtigen kann.3 Wenn beispielsweise ein Kind, das gerade laufen lernt, hinfällt und körperliche Schmerzen verspürt, könnte eine einfühlsame Antwort der Eltern lauten: „Das hat sicher wehgetan“, während eine unsensible Antwort lauten würde: „Dir geht es doch gut, das hat nicht wehgetan, steh wieder auf.“ Damit das Kind erlernt, körperliche Signale zu erkennen, anzuerkennen und auszudrücken, muss das Elternteil erkennen, was das Kind empfindet, die gemeinsame Aufmerksamkeit darauf lenken, und die Empfindung benennen3:

„In dem Maße, in dem Bezugspersonen die Körpererfahrungen ihrer Kinder anerkennen, ehren und respektieren, wird das Kind eine präzisere Interozeption entwickeln“, erklärt Olroyd. „In dem Maße, in dem die Körpererfahrungen eines Kindes von den Eltern geleugnet, abgewertet, ignoriert oder bestraft werden, findet das Kind Wege, es zu vermeiden, diese zu fühlen, und entwickelt so eine verzerrt wahrgenommene Interozeption.“3

Oldroyd vertritt die Ansicht, dass die Art und Weise, wie wir lernen, körperlichen Schmerz zu regulieren, sich nicht von der Art und Weise unterscheidet, wie wir lernen, emotionalen Schmerz zu regulieren – in beiden Fällen werden wir durch unsere körperlichen Erfahrungen sozialisiert. Neurowissenschaftliche Studien unterstützen ihre Theorie und zeigen, dass Kinder, die einen ängstlichen oder vermeidenden Bindungsstil aufweisen, ein deutlich geringeres Volumen der Insula haben als sicher gebundene Kinder.4 Wenn das körperliche Selbst auch im Verlauf des  Erwachsenenlebens dieser Kinder unverändert bleibt, in dem  Beziehungen komplexer werden und die sozial-emotionale Regulierung immer wichtiger wird, ist es laut Oldroyd die mangelnde  Interozeption selbst, die zu Störungen wie Angst, Depression und Sucht führen kann. Es kann ebenso dazu führen, dass sich einige von uns weiter von sozialen Beziehungen abwenden, obwohl dies ironischerweise das ist, was wir vielleicht am meisten brauchen.

INTEROZEPTION UND SOZIALE GESUNDHEIT

Andy Arnold, Psychologe und Experte für Interozeption an der University of California San Diego und Gastprofessor am Knox College, hält fest: „Eine Idee, mit der ich arbeite ist, dass die Interozeption ein kritischer Mechanismus zur Evaluierung notwendiger Ressourcen in unserem Leben sein könnte. Wenn das interozeptive Verständnis eingeschränkt ist, dann ist man eventuell nicht in der Lage, den Mangel an benötigten Ressourcen [wie] einer sozialen Verbindung angemessen zu spüren und entsprechend zu handeln.“ Zum Beispiel könnte die Sucht eine falsche Beurteilung von Ressourcen sein, bei der man „die Droge überbewertet, andere Stimuli im Leben hingegen unterbewertet”, erklärte mir Arnold und fügte hinzu, dass die Insula wahrscheinlich eine entscheidende Rolle in diesem Prozess spielt.

Es funktioniert genauso auch andersherum: Substanzmissbrauch stört die Interozeption und schadet der Insula. Aufnahmen des Gehirns aus bildgebenden Verfahren von Menschen mit Alkoholabhängigkeit zeigen eine signifikant reduzierte graue Substanz in der Insula, die durch einen erheblichen Verlust an sogenannten von –Economo Neuronen (oder „Empathie-Zellen”)5 gekennzeichnet ist. Bei diesen Neuronen handelt es sich um eine relativ neue evolutionäre Spezialisierung im Menschen, von der man annimmt, dass sie entscheidend für interozeptive Sensibilität und prosoziales Verhalten ist.6 Paradoxerweise führt eine Schädigung der Insula in bestimmten Fällen sogar zur Umkehrung des Suchtverhaltens. In einer Studie aus dem Jahr 2015 zum Thema Sucht beobachteten Forscher:innen der University of Southern California: „Einerseits schädigt die Alkoholabhängigkeit die Insula. Auf der anderen Seite reduziert eine Schädigung der Insula das Verlangen nach Alkohol”.7

Allerdings stellt dies keinen Widerspruch dar, wenn man Sucht als soziales Gesundheitsproblem betrachtet. Die Insula könnte uns normalerweise motivieren, nach sozialer Anerkennung zu suchen, wenn wir aber unsere sozial-emotionalen Bedürfnisse nicht anhand unserer Gefühle verstehen können, greifen wir möglicherweise zu Substanzen, um diese Unsicherheit zu überwinden. Intensiver Substanzkonsum ist vielleicht so, als würde man die falsche Art von Treibstoff in den Tank füllen: Wenn sich das Gehirn und der Körper nach sozialer Verbindung sehnen, man ihnen stattdessen aber etwas anderes zuführt, schadet es dem Motor mit der Zeit, obwohl er, zumindest vorübergehend, scheinbar gut funktioniert. In diesem Fall überdauert vielleicht die gewohnheitsmäßige Abhängigkeit von der Substanz die ursprüngliche Motivation, sie zu benutzen. Andererseits kann eine komplette Schädigung der Insula die Abspeicherung der Substanz als Ersatz für soziale Belohnung aufheben und somit das Verlangen (craving) nach der Substanz unmittelbar reduzieren.

Die Insula zeigt uns, wie fehlgeleitet wir sein könnten, wenn wir Störungen wie Sucht, Angst, Depression und Substanzmissbrauch als Probleme der „mentalen Gesundheit” bezeichnen. Wenn sich die Interozeption zunächst im Kontext zwischenmenschlicher Beziehungen entwickelt, dann gilt das auch für viele unserer Erkrankungen – und das sollten auch unsere Behandlungen tun.

VERBINDUNG DURCH DEN KÖRPER

Im November 2019 veröffentlichten Arnold und seine Kollegin, die Neurowissenschaftlerin Karen Dobkins, die erste akademische Diskussion über das, was sie „soziale Interozeption” nennen und argumentieren darin, dass interozeptive Fähigkeiten soziale Verbindungen fördern.8 Um zu verstehen, wie Interozeption in einer sozialen Situation funktionieren könnte, kann man sich eine Situation vorstellen, in der sich die Herzfrequenz erhöht – eine Reaktion, die Wachsamkeit erhöhen und auf „Fight or Flight” vorbereiten soll. Dobkins und Arnold glauben, dass es nicht die physiologische Reaktion an sich ist, die sozialen Stress verursacht, sondern eher die subjektive Interpretation dieser Reaktion. Sie verweisen auf eine Reihe von Studien von Forscher:innen in München, die soziale Stresstests mit improvisierten öffentlichen Reden9 und sozialem Ausschluss10 in einer Spielsituation verwendeten, um Interozeption zu messen. Die Forscher:innen entdeckten, dass Personen mit höherer interozeptiver Genauigkeit über weniger negative Emotionen nach der herausfordernden sozialen Situation berichteten, obwohl ihre Herzfrequenz und elektrodermale Aktivität (EDA, elektrischer Leitwiderstand der Haut) ähnlich waren wie bei Teilnehmenden mit geringerer interozeptiver Genauigkeit. Mit anderen Worten, zwei Menschen können den gleichen inneren Körperzustand haben, aber völlig unterschiedliche Level von sozialem Unbehagen empfinden.

„Dies führt zu der interessanten Idee, dass eine höhere interozeptive Genauigkeit uns vielleicht erlaubt, die physiologische Reaktion als Ergebnis einer objektiven, externen ‘sozialen Situation’ zu identifizieren und nicht als ein Merkmal der eigenen Person“, sagen Dobkins und Arnold. „Dies könnte eine bessere Emotionsregulation in sozialen Situationen widerspiegeln.“ Oldroyd greift diese Ideen in ihrer eigenen Arbeit auf: „Es ist die Neigung, körperliche Signale auf eine negative Art und Weise zu interpretieren, und nicht das Wahrnehmen von körperlichen Signalen, das zur Entstehung von sowohl kognitiven als auch  verhaltensbezogenen Symptomen der Angst beiträgt.“

Es gibt einen wichtigen Subtext in diesen Aussagen: Vielleicht werden wir nicht mit unseren verschiedenen sozialen Neurosen geboren. Vielleicht werden wir mit einer Neigung zur Interpretation positiver sozialer Signale geboren, zur Verbundenheit mit anderen. Eine schlechte Interozeption, die sich oft im Kontext einer schwierigen Kindheit entwickelt hat, kann dazu führen, dass sich diese Neigung umkehrt – zur Interpretation negativer Signale. Der Weg, dies wieder rückgängig zu machen, wäre laut Dobkins, dass man anfängt, auf seinen Körper zu hören und ihm zu vertrauen, bevor der Verstand voreilige Schlussfolgerungen zieht. In ihrer eigenen Arbeit zu Einsamkeit fanden Dobkins und Arnold heraus, dass vor allem ein bestimmtes Maß der Interozeption – das Vertrauen in den Körper – Unterschiede in der subjektiven Einsamkeit von Studierenden an der UCLA vorhersagte.11 Dies deutet darauf hin, dass die Verbindung zum eigenen Körper es uns ermöglicht, uns mit anderen zu verbinden, egal ob das bedeutet, mehr Freunde oder andere Freunde zu finden.. Je mehr wir unserem eigenen Körper vertrauen, desto kompetenter werden wir nicht nur darin,  uns selbst zu verstehen, sondern auch darin, andere Menschen zu verstehenund uns mit ihnen zu verbinden.

„Sie kennen das Gefühl, wenn Sie und Ihr Gegenüber auf der „gleichen Wellenlänge” sind?“ sagt Dobkins. „Nun, das ist nicht das, wovon ich spreche. Das ist der Verstand, der sich zurückmeldet und sagt: ‘Die andere Person und ich glauben oder wollen das Gleiche.’ Verbindung ist körperbasiert. Es ist ein Wissen im Körper. Was voraussetzt, dass man seinen Körper kennen muss.“

Das wachsende Feld der sozialen Interozeption könnte uns helfen, nicht nur die Einsamkeit besser zu verstehen und zu behandeln, sondern auch Ängste, Sucht, Essstörungen, Depressionen und andere Zustände, die traditionell eher mit Gedankenmustern als mit Körpersignalen in Verbindung gebracht werden. Tatsächlich könnte die soziale Interozeption ein wesentliches Puzzlestück sein, um zu erklären, wie psychedelisch-unterstützte Therapie funktioniert.

PSYCHEDELISCHE Substanzen UND INTEROZEPTION

Als Teil des Salience-Netzwerks besteht eine der Hauptfunktionen der Insula darin, die Aktivität zwischen anderen Netzwerken zu koordinieren, darunter das Default Mode Network (Ruhezustandsnetzwerk) und das Central Executive Network (Zentrale Exekutive). Im Jahr 2017 fanden Robin Carhart-Harris und sein Forschungsteam am Imperial College London heraus, dass die Hypokonnektivität der Insula „eine neurobiologisches Kernmerkmal der MDMA-Erfahrung“ ist und  mit reduzierter Angst, veränderten Körperempfindungen und Veränderungen der Interozeption korreliert.12 „Ein besseres Verständnis darüber, wie MDMA die Insula beeinflusst“, schreibt Carhart-Harris, „könnte entscheidend sein, um die neurobiologischen Grundlagen des wiederaufkommenden Interesses an MDMA als Ergänzung zur Psychotherapie bei der Behandlung von Angststörungen, einschließlich PTBS, zu klären.“ Andere Teams haben ähnliche Ergebnisse gefunden, die eine Hypokonnektivität der Insula mit einer LSD-Erfahrung in Verbindung bringen.13

Forschungen zu den neuronalen Korrelaten verschiedener Arten von Achtsamkeitsmeditation weisen ebenfalls auf die Insula und den Körper hin. In einem Kommentar zu einer Studie über Loving-Kindness-Meditation, fokussierte Aufmerksamkeit, Open Monitoring und Mantra-Rezitation bemerkt Carhart-Harris, dass diese vier Meditationsstile zwar in ihren neuronalen Korrelaten klar voneinander getrennt sind, es aber „einige wiederkehrende Muster der Aktivitätsmodulation gibt, insbesondere in der Insula, einem wichtigen multisensorischen Bereich, der stark in die interozeptive Wahrnehmung involviert ist “14. Er deutet darauf hin, dass die Beteiligung der Insula in allen vier Meditationsstilen auf „die zentrale Rolle der Aufmerksamkeitskontrolle der Körperwahrnehmung, insbesondere der Atemwahrnehmung, während verschiedener kontemplativer Praktiken“ hinweist. Wie wir gesehen haben, ist die Körperwahrnehmung eng mit sozialen Emotionen verbunden, was helfen könnte, die Vorteile sowohl der Achtsamkeitsmeditation als auch der psychedelischen Therapie zu erklären.

PSYCHEDELIKA UND VERBUNDENHEIT

Katrin Preller erforscht an der Universität Zürich den Nutzen von Psychedelika für die soziale Gesundheit. Ihre Arbeit auf diesem Gebiet bestätigt Allmanns Auffassung, dass die Art, wie wir uns selbst sehen, untrennbar mit der sozialen Wahrnehmung verwoben ist. Zum Beispiel wurde festgestellt, dass Psilocybin und LSD sozialen Leidensdruck vor allem durch eine Veränderung der Selbstverarbeitung (self-processing)15 reduzieren, zu der auch Erfahrungen von Einheit und Verbundenheit gehören.

„Einer der Hauptaspekte der psychedelischen Erfahrung ist das Gefühl der Verbundenheit – mit dem Universum, der Natur, aber vor allem auch mit dem sozialen Umfeld“, sagte mir Preller. „Weiterhin sehen wir eine Zunahme der emotionalen Empathie, die ein wichtiger Faktor für das Gefühl von Verbundenheit sein könnte. In klinischen Studien prüfen wir derzeit die Hypothese, dass diese Erfahrung zur Wirksamkeit der psychedelisch-gestützten Therapie beiträgt.“

In einer erfolgreichen Studienreihe der Johns Hopkins Universität, die sich mit Psilocybin und Nikotinsucht befasste, identifizierten Teilnehmende „soziale Faktoren, wie beispielsweise das Rauchen als eine Möglichkeit, sich mit anderen Menschen zu verbinden, was zu ihrer Sucht beitrug.“16 Sie berichteten, dass durch Psilocybin induzierte Gefühle von Liebe und Verbundenheit mit ihrer Umgebung und anderen Menschen, unabhängig vom Rauchen als sozialem Faktor, wichtig für die Tabakentwöhnung waren.17 „Psilocybin könnte die Verarbeitung sozialer Anerkennung wiederhergestellt haben und so den/die Patient:in bei der Überwindung ihrer Sucht geholfen haben“, spekuliert Preller. „Meine Hoffnung ist, dass sich die Therapie mehr auf die soziale Kognition und das soziale Umfeld der Patient:innen konzentrieren wird. Zum Beispiel könnten soziale Trainingsprogramme darauf abzielen, die Verarbeitung sozialer Anerkennung bei süchtigen Patient:innen wieder in Gang zu setzen und ihnen dabei helfen, sich wieder mit ihrem sozialen Umfeld zu verbinden.“

Forschung über die Insula und die soziale Interozeption legt nahe, dass der Körper der Hauptkanal ist, durch den diese Veränderungen stattfinden müssen. Gefühle von Liebe und Verbundenheit sind genau das – Gefühle. Es scheint, dass wir soziale Anerkennung fühlen müssen, sie in unserem Körper halten müssen, damit wir aufhören, ihren Ersatz zu brauchen. Indem wir das tun, stellen wir vielleicht eine Art von Standardeinstellung wieder her. Nach allem, was wir wissen, ist „Verbundenheit” vielleicht gar kein additives Gefühl. Im Gegenteil, vielleicht ist es das grundlegende, ursprüngliche Empfinden, dass das Selbst sozial konstruiert ist. Und während es für die Psyche ein neues Gefühl sein mag, legt Oldroyds Arbeit nahe, dass es für den Körper kein neues Gefühl ist. Vielleicht ist das der Grund, warum sich psychedelische Erfahrungen für manche so tiefgreifend anfühlen: Tief in ihrem Körper haben sie es immer gewusst.

VON DER GLOBALEN KONNEKTIVITÄT ZUR LOKALEN PLASTIZITÄT

Im April 2019 veröffentlichten Forscher der Johns Hopkins University eine Tierstudie, die demonstrierte, dass MDMA eine „kritische Phase” wieder öffnet, in der das Mäusegehirn empfindlich für das Erlernen des Belohnungswertes sozialer Verhaltensweisen ist.18 Obwohl es sich um eine neurobiologische Studie handelt, die die erneute Öffnung auf eine erhöhte, durch Oxytocin induzierte Hirnplastizität zurückführt, klingt der verhaltensbezogene Mechanismus sehr stark nach Oldroyds Theorie der Interozeption aus der Kindheit: Kritische Phasen wurden erstmals in den 1930er Jahren bei Schneegänsen beschrieben, als man feststellte, dass Gänseküken sich an ein Objekt binden, wenn ihre Mutter 24 Stunden nach dem Schlüpfen verschwindet, nicht jedoch nach 48 Stunden. Man kann sich vorstellen, welche Gänseküken am besten in der Lage wären, ihre körperlichen Hinweise bis ins Erwachsenenalter zu sozialisieren, vorausgesetzt, Gänse sind sich ihrer selbst bewusst genug, um dies zu tun. In der Hopkins-Studie zeigten erwachsene Mäuse, denen MDMA verabreicht wurde, prosoziales Verhalten in einer Art und Weise, die normalerweise nur bei Jungtieren zu beobachten ist, und bildeten positive Assoziationen zwischen der Gemeinschaft und einer bestimmten Art von Streu in ihrem Gehege. Die Neurowissenschaftlerin Gül Dölen und ihr Team fanden heraus, dass dies nur geschah, wenn die Substanz den Mäusen verabreicht wurde, wenn sie mit anderen Mäusen zusammen waren, nicht aber, wenn sie Mäusen verabreicht wurde, während sie allein waren. „Das deutet darauf hin, dass die Wiedereröffnung der kritischen Phase durch MDMA davon abhängt, ob sich die Tiere in einer sozialen Umgebung befinden“, sagt Dölen.

Verkörperte THERAPIE IM SOZIALEN UMFELD

Obwohl Dölen vorschlägt, dass diese Art der Behandlung bei Menschen durch eine Stärkung der therapeutischen Beziehung funktionieren könnte, würde ich argumentieren, dass dies auch ein Plädoyer für eine ganz andere Art von Therapie ist – eine Art von sozialer, verkörperter Therapie oder Körperarbeit in Gruppen, die von Psychotherapeut:innen geleitet wird. Soziales Erlernen von Belohnungssystemen findet durch den Körper in einem sozialen Kontext statt, zum Großteil deshalb, weil wir schon früh in unserem Leben durch unsere Körper sozialisiert werden. Wenn das therapeutische Ziel eine adaptive soziale Verbindung ist, warum dann nicht einen größeren Schwerpunkt auf Verbindung als Therapie legen?

In der Tat scheint es fragwürdig, dass irgendjemand von uns als isoliertes Wesen heilen sollte, wenn wir doch geboren sind, um uns zu verbinden und wenn der Rest unseres Lebens auf Verbundenheit aufgebaut ist. Egal wie großartig die Beziehung zu Ihrem Therapeuten ist, die Dynamik ist oft die eines Objekts, das unter einem Mikroskop untersucht wird. Die moderne Therapie hat immer noch einen Hauch von Stigmatisierung und Quarantäne – unsere Probleme sind so privat, dass sie geheim gehalten werden müssen. Selbst die Somatic-Experiencing-Therapie, die uns diese Probleme zumindest über den Körper offenbart, behandelt jeden Menschen weitgehend in Isolation. Wir müssen unsere Probleme nicht unbedingt teilen um zu heilen. Tatsächlich erreichen einige PTBS-Patient:innen nach psychedelisch-unterstützten Therapiesitzungen, in denen keine Worte ausgetauscht wurden,19 beschwerdefreie Zustände. Aber es kann sein, dass wir die Zugänge zum sozialen Lernen – und zur Heilung von sozialen Krankheiten – nur durch den Körper, durch einander und durch den Teil des Gehirns, der ironischerweise so allein zu stehen scheint, wieder öffnen können.

 

 

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Quellen

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