Dr. Milan Scheidegger, M.D.

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Christoph Benner, M.Sc.

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Edited by Jennifer Them & Lucca Jaeckel

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  • 10 minutes
  • Oktober 4, 2018
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Christoph Benner: Milan, das zentrale Thema deiner Arbeit ist die transformative Psychotherapie. Das klingt ein bisschen wie „süßer Honig“ oder „runder Ball“ – ein Wiederholen von dem, was ohnehin schon da ist. Worauf ich hinaus will: Ist nicht jede Psychotherapie an sich schon transformativ? Warum diese Hervorhebung?

Milan Scheidegger: Du hast Recht, das Ziel jeder psychiatrischen Therapie ist die Transformation von einem maladaptiven zu einem adaptiven Gesundheitszustand. Im Gegensatz zu einer klassischen substitutionsbasierten Therapie – denken wir beispielsweise an den Einsatz von Antidepressiva zur Substitution von Serotonin im Gehirn depressiver Patient:innen – stellt die transformative Psychotherapie eine innovative und vielversprechende therapeutische Option dar. Durch die kurze, aber tiefgreifende, substanzinduzierte Bewusstseinsveränderung, ist es wahrscheinlicher, dass Patient:innen ihren Gesundheitszustand nachhaltig, und auf adaptive Art und Weise, verändern können. Während die substitutionsbasierte Therapie primär auf die Symptome von Krankheiten  abzielt, widmet sich die transformative Psychotherapie der ursächlichen Dynamik, welche einer bestimmten Krankheit zugrunde liegt. Die klinische Entscheidung darüber, welche dieser therapeutischen Optionen für individuelle Patient:innen am besten geeignet ist, muss auf einer sorgfältigen Nutzen-Risiko-Abwägung beruhen.

Deine Antwort wirft sofort die Frage auf, ob sich substitutionsbasierte Therapie und kognitive Transformation überhaupt so klar voneinander trennen lassen. Es ist zum Beispiel bekannt, dass depressive Patient:innen in bestimmten Hirnregionen eine geringere Synapsendichte  aufweisen. Sowohl Ketamin als auch Ayahuasca sind dafür bekannt, die Synaptogenese zu erhöhen. Diese Substanzen könnten also an sich schon eine heilsame Wirkung haben, da sie sowohl den neuronalen Mangel ersetzen als auch das Bewusstsein transformieren, oder?

Betrachtet man die Geschichte der psychiatrischen Forschung, so haben wir viele Wechsel zwischen biologisch und psychologisch basierten Krankheitsmodellen erlebt. Dies spiegelt die Komplexität des Problems wider: Das Verständnis der Schnittstelle zwischen Geist und Gehirn. Ich sehe die transformative Psychotherapie als einen ganzheitlichen Weg, psychische Krankheiten zu behandeln. Substitutionsbasierte Therapie stellt die andere Seite der Medaille dar, nämlich die Beschreibung einer Krankheit durch fehlgeleitete, meist lokale Gehirnprozesse. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, Geist und Gehirn als getrennte Entitäten zu behandeln, denn beide sind voneinander abhängig. Und Psychedelika sind interessante epistemologische Werkzeuge, um diese Schnittstellen zu erforschen: Sowohl Ketamin als auch Ayahuasca lösen bestimmte zelluläre Ereignisse aus, die schließlich zu tiefgreifenden Veränderungen des Bewusstseins führen. Wie das genau geschieht, ist noch nicht geklärt.

Du hast den ganzheitlichen Ansatz erwähnt, der hinter der transformativen Psychotherapie steht. Als solch eine ganzheitliche Therapieform versucht sie, die Brücke zwischen dem traditionellen Wissen der indigenen Völker und der modernen Naturwissenschaft zu schlagen. Wo fängt man an, diese Mammutaufgabe zu lösen?

Die Idee, diese beiden unterschiedlichen Weltanschauungen miteinander in Einklang zu bringen, stammt von meinen ethnobotanischen Reisen durch Südamerika und Mexiko, wo ich traditionelle indigene Heilmethoden erkundet habe. Als Mediziner bin ich aufrichtig daran interessiert, menschliches Leiden zu verringern, und habe beobachtet, dass verschiedene Methoden zur Induktion von veränderten Bewusstseinszuständen vielversprechendes therapeutisches Potenzial aufweisen. Durch das Studieren veränderter Bewusstseinszustände können wir nicht nur der Frage nachgehen, wie psychisches Leiden entsteht. Wir lernen auch, wie es gelöst werden kann –  indem wir uns gewisse Fähigkeiten aneignen, die uns dabei helfen, flexibler und adaptiver durch verschiedene Bewusstseinszustände zu navigieren – sowohl als Individuen als auch auf kollektiver Ebene…

…Ich glaube, ein wichtiger Begriff, den du auch in ddeinen Aufsätzen verwendest, ist Tiefenökologie (Eng.: deep ecology), oder?

Ja, die Tiefenökologie verändert unser Denken über die Entstehung von Krankheiten. Erkrankungen lassen sich nicht auf einen einzelnen Prozess innerhalb des menschlichen Körpers reduzieren, sondern resultieren aus komplexen maladaptiven Netzwerkdynamiken zwischen dem Subjekt und seiner Umwelt. Jeder Prozess in diesem Ökosystem spielt eine wichtige Rolle, von Stoffwechselinteraktionen bis hin zur Ebene des phänomenalen Bewusstseins. Krankheiten entstehen, wenn dieses Ökosystem aus dem Gleichgewicht gerät.

Die klinische Praxis würde sehr davon profitieren, diese integrative Sichtweise miteinzubeziehen. Der Einsatz von psychedelischen Substanzen wäre hierbei eine Ergänzung. Denken wir an depressive Patient:innen, denen Psilocybin in  kontrollierten und sicheren Settings verabreicht wird. Die Einnahme dieses Medikaments würde die Sensibilität für introspektive Prozesse , welche im Verlauf der Krankheit auf maladaptive Weise beeinflusst wurden, vertiefen. Dies erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit für adaptive Veränderungen von Einstellungen und Verhaltensweisen.

Tiefenökologisches Denken ist ein integraler Bestandteil archaischer Kulturen und indigener Weltanschauungen, bei denen die Sensibilität für Ungleichgewichte in der natürlichen Welt der Schlüssel zu einer effektiven Behandlung ist. Es kann aber auch zu einer wertvollen Ressource für die gegenwärtige westliche Medizin und Wissenschaft werden, so dass sich ihr Fokus nicht nur darauf beschränkt, mit hochentwickelten Technologien vereinzelte Schwächen in der Biomechanik des Körpers zu beheben. Daher denke ich, dass die medizinische Verwendung von Psychedelika den Weg für neuartige Behandlungsparadigmen ebnen könnte, weil sie das Meta-Bewusstsein auf einer   tiefenökologischen Ebene erhöhen.

Ich stimme der Einbeziehung dieses Wissens für medizinische Zwecke sofort zu. Aber wenn man an die sehr tiefgründige Frage nach dem Zusammenspiel von Geist und Gehirn denkt, zeigen die recht unterschiedlichen Antworten eines peruanischen Curanderos und eines Schweizer Neurowissenschaftlers ein ziemliches Dilemma auf, findest du nicht?

Auf den ersten Blick könntest du Recht haben. Dualistische Ansätze zum Geist-Körper-Problem gehen auf den berühmten französischen Philosophen René Descartes zurück und haben das westliche Denken stark beeinflusst. Die Sichtweise der indigenen Völker Südamerikas ist dagegen völlig anders und in animistischen oder pan-psychistischen Vorstellungen vom Kosmos verwurzelt, in dem alles beseelt ist. Wenn wir wieder zur Tiefenökologie zurückkehren, erscheinen Geist und Materie nicht mehr als getrennte Entitäten, sondern sind beides Teile desselben Ökosystems, genau wie alle Erscheinungen dieser Welt. In Anbetracht dessen erscheint die dualistische Trennung lediglich als ein Artefakt, ein begrifflicher Fehler unserer Sprache, abhängig vom Standpunkt, den man einnimmt, um das Paradoxon aufzulösen: Ob etwas als Geist oder als Materie erscheint, hängt weitgehend von unserer Perspektive ab.

Verleihst du psychedelischen Erfahrungen wahre Bedeutung und gültige Erkenntnisinhalte? Ich meine, du sprichst sowohl von der fehlerhaften Natur subjektiver Erfahrung beim Erwerb gültiger Wissensinhalte als auch von der überlegenen Interpretation indigener Völker in metaphysischen Fragen, die sicherlich teilweise aus psychedelischen Erfahrungen abgeleitet wurden.

Der Sinn für Realität kann während einer psychedelischen Erfahrung tiefgreifend verändert werden. Gesteigerte geistige Klarheit kann unsere Fähigkeit zur Bedeutungszuweisung außer Kraft setzen, plötzlich erscheint alles  bedeutsam. Daher bezweifle ich, dass psychedelische Erfahrungen Türen zu sonst verborgenen „absoluten Wahrheiten“ öffnen können. Vielmehr bieten sie erstaunliche Einblicke in die Struktur unserer alltäglichen Realität: Wir könnten entdecken, wie unsere Wahrnehmung der Realität von subjektiven Bewertungen und Interpretationen gesteuert wird.

Im Rahmen dertransformativen Psychotherapie könnten solche Einsichten denjenigen Patient:innen helfen, die in depressivem Denken mit negativen Bewertungen ihrer selbst oder ihrer Umwelt gefangen sind. Es könnte sehr entlastend sein, solche voreingenommenen Überzeugungen vorübergehend aufzuheben und die Perspektive des/der Patient:in zu erweitern. Um auf deine Frage zurückzukommen: Obwohl psychedelische Erfahrungen sicherlich metaphysische oder psychospirituelle Überzeugungen über die Natur der Welt inspirieren, bezweifle ich ihren Wert, besonders wenn sie dogmatisch werden. Aber ich empfinde Aufgeschlossenheit als sehr wichtig, und diese Eigenschaft kann durch bewusstseinsverändernde Substanzen sicherlich gefördert werden.

Werfen wir mal einen Blick auf deine Arbeit im Labor: Du nennst es ein bioarchäologisches Unterfangen, mentale Zustände mit Methoden wie der fMRT sichtbar zu machen. Kritiker:innen nennen es eine „mission impossible“, da zu viele Zwischenschritte nötig sind um dieses Ziel zu erreichen. Das Ausmaß der Abstraktion sei zu hoch, heißt es. Was entgegnest du dem?

Ich sehe mich als Bioarchäologe, der tiefe Löcher ins Gehirn gräbt, um die Signale, die mir dort begegnen, zu entschlüsseln. Diese Aufgabe hat natürlich Einschränkungen. Zum Beispiel zeigen sich Gehirnsignale meist wie Hieroglyphen, die für mich völlig unlesbar sind. Dann stellt sich mir außerdem die Frage nach dem wahren Informationsgehalt der Signale, die ich scheinbar entschlüsseln kann.

Das läuft auf die Frage hinaus, wie viel von unserer geistigen Aktivität wirklich auf neuronale Prozesse zurückgeführt werden kann. Vielleicht beziehen sich diese Signale auf Prozesse, die gar nichts mit dem subjektiven Erleben zu tun haben. Du siehst, es gibt eine Menge Probleme, die ich durchaus anerkenne. Ich gebe mich auch nicht der Illusion hin, dass wir in naher Zukunft eine einheitliche Theorie des Bewusstseins haben werden.

Ich sehe aber auch ein großes Problem in der aktuellen Entwicklung im Bereich der Naturwissenschaften. Es gibt einen Trend zur Formierung von Teildisziplinen mit mangelndem Dialog untereinander. Transdisziplinäres Denken kann uns davor bewahren, in die Fallen begrenzter erkenntnistheoretischer Perspektiven zu tappen, wie z.B. bei der Visualisierung mentaler Prozesse durch die Neuroimaging-Methodik. Das Einnehmen verschiedener Perspektiven und Standpunkte wird uns letztendlich helfen, unser Gehirn Stück für Stück zu verstehen.

Und welches Signal würdest du persönlich als Bioarchäologe gerne ausgraben?

Da ich mich sehr für die Neurobiologie des Selbst interessiere, würde ich gerne Gehirnprozesse identifizieren, die mit der Aufrechterhaltung und der Auflösung des Selbstgefühls verbunden sind. Das könnte uns ein tieferes Verständnis dafür geben, warum Psychedelika oder Meditation eine transformative Wirkung ausüben. Dazu gehören auch Zustände der Selbsttranszendenz, in denen man sich tief mit seinen Mitmenschen, seiner Umwelt und dem gesamten Ökosystem verbunden fühlt.

In unserer Kultur leiden Psychedelika immer noch unter ihrem schlechten Ruf. Wie wäre es möglich, veränderte Bewusstseinszustände in unsere Kultur zu integrieren? Vielleicht in Richtung einer Art säkularen Spiritualität, wie sie Thomas Metzinger vorschlägt?

Zunächst einmal glaube ich, dass der schlechte Ruf von Psychedelika in unserer Kultur zu einem großen Teil dem heutigen Zeitgeist geschuldet ist, in dem wir totale Angst vor Kontrollverlust in unserem viel zu durchgeplanten Leben haben. Im Vergleich zu indigenen Kulturen fehlen uns sichere und kulturell akzeptierte Räume, um die bewusste Kontrolle loszulassen und durch Psychedelika tiefere Schichten des Bewusstseins zu erkunden. Idealerweise sollten solche Räume frei von religiöser oder doktrinärer Manipulation sein, daher würde ich den säkularen Aspekt betonen, den du erwähnt hast. Es liegt in erster Linie in der Verantwortung des Einzelnen, welche Bedeutung diesen Erfahrungen zugeschrieben wird. Als Teil dieses Prozesses scheinen Offenheit und Neugier angemessener zu sein als unkritische ideologische oder psychospirituelle Interpretationen.

Zu einer psychedelischen Erfahrung gehört auch die Bereitschaft, sich negativen Gedankeninhalten und schwierigen Emotionen zu stellen, die im Verlauf einer solchen Sitzung auftreten können. Eine Haltung der Offenheit und Akzeptanz gegenüber dem Fühlen des gesamten Emotionsspektrums, statt dem Unterdrücken negativer Emotionen, könnte langfristig das psychologische Wohlbefinden steigern.

Schließlich glaube ich, dass eine sorgfältige und intelligente Nutzung des transformativen Potenzials veränderter Bewusstseinszustände nicht nur die medizinische Praxis, sondern auch unser kulturelles Zusammenleben als Menschen verbessern könnte.

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Einige von Milans Publikationen:
  1. Positive psychology in the investigation of psychedelics and entactogens: A critical review.
  2. Jungaberle H, Thal S, Zeuch A, Rougemont-Bücking A, Heyden von M, Aicher H, Scheidegger M. Neuropharmacology. 2018. doi: 10.1016/j.neuropharm.2018.06.034.
  3. Bewusstseinserweiternde Substanzen als neue Möglichkeiten der Therapie(PDF)
  4. Scheidegger M. Info Neurologie & Psychiatrie, Volume 1, 2018.
  5. Effects of serotonin 2A/1A receptor stimulation on social exclusion processing.
  6. Preller KH, Pokorny T, Hock A, Kraehenmann R, Stämpfli P, Seifritz E, Scheidegger M, Vollenweider FX. Proc Natl Acad Sci U S A. 2016 May 3;113(18):5119-24. doi: 10.1073/pnas.1524187113. Epub 2016 Apr 18.
  7. Ketamine administration reduces amygdalo-hippocampal reactivity to emotional stimulation.
  8. Scheidegger M, Henning A, Walter M, Lehmann M, Kraehenmann R, Boeker H, Seifritz E, Grimm S. Hum Brain Mapp. 2016 May;37(5):1941-52. doi: 10.1002/hbm.23148. Epub 2016 Feb 25.
  9. Effects of ketamine on cognition-emotion interaction in the brain.
  10. Scheidegger M, Henning A, Walter M, Boeker H, Weigand A, Seifritz E, Grimm S. Neuroimage. 2016 Jan 1;124(Pt A):8-15. doi: 10.1016/j.neuroimage.2015.08.070. Epub 2015 Sep 5.

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