Format

Interview

Categories

Biological Sciences Drug Science Neuroscience Psychedelic Therapy Medicine & Psychiatry


Related Blog post

Jenseits Der Therapeutischen Allianz:

Wie MDMA Und Klassische Psychedelika Soziales Lernen Modifizieren Ein Interview Mit Gül Dölen

Übersetzt von Luise von Münchhausen, editiert von Sebastian Moder


Editiert von Lucca Jaeckel & Clara Schüler

„ANSTATT EINE MDMA-UNTERSTÜTZTE PSYCHOTHERAPIE DURCHZUFÜHREN UND DIE BETROFFENEN DANN MIT EINEM TAGEBUCH UND EIN PAAR GLÜCKLICHEN GEDANKEN NACH HAUSE ZU SCHICKEN, SOLLTEN WIR LIEBER SAGEN, DASS DAS THERAPEUTISCHE ZEITFENSTER EIGENTLICH FÜR WOCHEN, WENN NICHT SOGAR MONATE, NACHDEM DIE AKUTEN PSYCHEDELISCHEN EFFEKTE ABGEKLUNGEN SIND, ANDAUERT.“

An der medizinischen Fakultät der Johns Hopkins Universität, Abteilung für Neurowissenschaften, erforscht die Neurobiologin und wissenschaftliches Beiratsmitglied von MIND, Gül Dölen, MD-PhD, die Mechanismen, durch die psychedelische Substanzen ihre Wirksamkeit in der Behandlung von Krankheiten des sozialen Gehirns wie PTBS, Suchterkrankungen oder schwere Formen von Autismus erzielen.Dölen sprach mit mir über ihren in 2019  erschienenen Artikel1 in Nature, der aufzeigte, dass MDMA eine „kritische Phase des sozialen Lernens  im Gehirn von Mäusen wiedereröffnet, in der sie besonders empfänglich für das Erlernen des Belohnungswertes von sozialem Verhalten sind– aber nur, wenn sie sichin einem sozialen Umfeld befinden. Basierend auf dieser Forschung gehen Dölen und ihre Kolleg:innen davon aus, dass zwei Dinge erforderlich sind, damit MDMA – und möglicherweise alle Psychedelika – im Zusammenhang mit Erkrankungen des sozialen Hirns therapeutisch wirksam sein können: 1) Die Wiedereröffnung der kritischen Phase und 2) Der richtige soziale Kontext für die Umgestaltung von Erinnerungen Diese Auffassung stellt nicht nur die bestehenden psychedelischen Therapiemodelle in Frage, sondern  eröffnet sie auch einen neuen Weg für psychiatrische Behandlungen im Allgemeinen.

DIE VORBEREITUNG DES GEHIRNS AUF PSYCHEDELIKA

Saga Briggs (SB): Basierend auf Ihren Tierstudien, wie glauben Sie, könnten psychedelische Drogen im Menschen wirken, um Erkrankungen des sozialen Hirns wie PTBS zu behandeln?

Gül Dölen (GD): Wenn wir darüber nachdenken, was passiert, wenn jemand eine PTBS hat, dann geht es darum, dass die Betroffenen während ihrer Kindheit oder Jugend [während der maximalen Empfindlichkeit gegenüber der sozialen Umgebung, der sogenannten „social critical period“, der kritischen Phase sozialen Lernens], in einer sozialen Umgebung waren und ihnen etwas Schlimmes widerfahren ist. In diesem Moment war ihre Reaktion sehr adaptiv. Sie schützten sich selbst, indem sie Mauern errichteten, indem sie sich vor dem schützten, was diese Verletzung verursacht hat .

Aber dann endet die kritische Phase und mit der Zeit wird diese adaptive Reaktion immer weniger adaptiv, bis sie das Erwachsenenalter erreichen und nicht mehr in der Lage sind, intime Beziehungen einzugehen. Sie sind unfähig, einen Beruf zu behalten. Sie haben eine sehr negative Sicht auf sich selbst in Bezug auf ihr Selbstwertgefühl und glauben, dass sie es nicht verdienen, geliebt zu werden und auf der Welt zu sein. Die Erinnerung wird zu einer tief verwurzelten Weltanschauung, und es ist schwer, diese zu überwinden. Die Idee ist also, dass wir mit MDMA zurückgehen und ihnen erlauben, diese Erinnerung auf eine adaptive Art und Weise umzuschreiben, jetzt, wo das traumatische Ereignis aus ihrer Umgebung entfernt worden ist.

Und ich glaube, dass wir am Ende des Nature-Artikels ungefähr mit den Worten endeten: „Oh, naja, [psychedelische Substanzen] verstärken vielleicht nur die therapeutische Allianz“, aber basierend auf  neueren Daten und längerem Nachdenken darüber, glaube ich, dass es um mehr als nur die therapeutische Allianz geht. Es geht darum, diese Erinnerungen für die Modifikation verfügbar zu machen.

SB: Wie funktioniert diese Modifikation von Erinnerungen genau?

GD: In der Art und Weise, wie ich heute darüber spreche, nenne ich sie „Open State Engram Modification“ (deutsch in etwa: Modifikation eines Engramms in offenem Zustand). Man versetzt also das Gehirn auf MDMA in einen offenen Zustand, in dem man wieder sensibel für seine soziale Umgebung wird, und dannbringt man – entweder durch Therapie,durch die Verarbeitung der eigenen Erinnerungen, das Betrachten von Fotos oder durch das Führen eines Tagebuchs – das für das Trauma relevante Erinnerungsengramm zurück. Dieser durch MDMA herbeigeführte Zustand ermöglicht es einem, das Erinnerungsengramm zu manipulieren und die Erinnerungen umformbar zu machen und so umzuschreiben, dass sie auf die Realitäten der aktuellen Welt reagieren können.

SB: Und glauben Sie, dass das per se in einer sozialen Umgebung passieren muss? Ich glaube, in Ihrem Nature-Artikel erwähnen Sie, dass dieses Phänomen nur auftrat, wenn Mäuse mit anderen Mäusen zusammen waren. Aber es gibt natürlich auch viele Menschen, die transformierende Erfahrungen machen, wenn sie Psychedelika alleine einnehmen.

GD: Ich denke, eine der überraschendsten und wesentlichsten Erkenntnisse des Artikels ist die Abhängigkeit von der Umgebung, des „Settings”. In jeder anderen Erklärung zur Wirkung dieser psychedelischen Drogen , die von buchstäblich allen anderen  gegeben wurde, wurde immer die Tatsache übersehen, dass diese Erfahrungen sehr stark durch das Set und das Setting beeinflusst werden, dass sie also kontextabhängig sind. Es ist nicht so, dass Leute, die PTBS haben, MDMA nehmen, dann auf einen Rave gehen und geheilt zurückkommen. Ja, man kann auch außerhalb einer Arztpraxis tiefgreifende Erfahrungen machen, die in therapeutischer Hinsicht wichtig sind. Aber man wird sie nicht haben, wenn man die ganze Zeit nur mit Feiern verbracht hat. In diesem Fall setzen Sie sich nicht mit diesen [traumatischen] Erinnerungen auseinander.

ÜBER DIE AKUTEN EFFEKTE HINAUSGEHEND

SB: Ist das derselbe Mechanismus, von dem Sie glauben, dass er auch bei der Behandlung schwerer Formen von Autismus wirksam sein könnte?

GD: Bevor wir in die Autismus-Studien am Menschen eintauchen können, wollen wir uns zunächst ein paar Informationen über Autismus anschauen. Als ich Doktorandin war, haben mein Doktorvater Mark Bear und ich die Theorie aufgestellt, dass die übermäßige Proteinsynthese, die bei Autismus beobachtet wird, ausgeglichen wird, wenn man die Signalübertragung eines bestimmten Glutamatrezeptors [mGluR5] herunterfährt.2 Diese Theorie hat für viel Enthusiasmus und Aufregung gesorgt und schien durch Studien mit Tieren bestätigt zu werden, die von achtundzwanzig weiteren Laboren repliziert wurden. Nachdem diese präklinischen Tierstudien so viel Aufmerksamkeit in der Presse bekamen, sprangen die großen Pharmaunternehmen auf den Zug auf und dachten, sie würden Autismus mit dieser mGluR-Modifikation heilen können. Doch dann scheiterten die klinischen Studien, was eine große Enttäuschung für das gesamte Gebiet der translationalen Neurowissenschaften war. Es war niederschmetternd, weil wir alle dachten, es würde funktionieren, und dann tat es das nicht. Bei dem Versuch, darüber nachzudenken, warum es nicht funktioniert hat, gab es eine Menge möglicher Erklärungen. Ich vermute aber, dass es daran lag, dass jede einzelne der Tierstudien entweder von der Genese her durchgeführt wurde [die Manipulation wurde genetisch vorgenommen, so dass die Tiere mit dem veränderten Gen geboren wurden] oder sie bekamen [den mGluR-Modulator] sehr früh in der Entwicklung und dann ihr ganzes Leben lang einfach chronisch verabreicht. In den Studien mit Menschen hingegen waren die jüngsten rekrutierten Patient:innen sechzehn Jahre alt und die meisten von ihnen waren Erwachsene – weit über das Alter hinaus, in dem ihre kritische Phase des sozialen Lernens abgeschlossen sein sollte.

Die Idee, die ich gerne weiterverfolgen würde, ist also, dass der Grund für das Scheitern der klinischen Studien vielleicht darin liegt, dass die mGluR-Therapie zwar richtig, die kritische Phase aber bereits geschlossen war. Was wir tatsächlich tun müssten, ist, neben einem mGluR-Modulator auch ein Psychedelikum zu verabreichen, um die kritische Phase wieder zu öffnen. So, dass unter den Bedingungen einer offenen kritischen Phase das biochemische Ungleichgewicht korrigiert werden würde und man dadurch  therapeutische Wirksamkeit erhalten würde.

SB: Wäre die „Open State Engram Modification“ eine nachhaltige Behandlung für diese Krankheiten? Wie lange hielt der Effekt bei den Mäusen in Ihrer Studie an?

GD: Ja, ich glaube, das ist das Zweitwichtigste, was wir in dieser Studie gefunden haben: Jede andere Studie, die versucht hat, diese Mechanismen herauszufinden, hat sich hauptsächlich auf die akuten Wirkungen der Substanz konzentriert. Und was wir herausgefunden haben, ist, dass die kritische Phase  etwa sechs Stunden nach einer akuten Dosis MDMA beginnt, sich zu öffnen. Nach etwa 40 Stunden erreicht sie dann ihren Höhepunkt und bleibt mindestens zwei Wochen lang bestehen. Nach einem Monat wird sie wieder schwächer. Nur um das in die richtige Perspektive zu rücken: Zwei Wochen bei einer Maus entsprechen wahrscheinlich etwa zwei Monaten bei einem Menschen.

Ich glaube, das sagt auch etwas darüber aus, wie wir diese klinischen Studien durchführen sollten. Anstatt eine MDMA-unterstützte Psychotherapie durchzuführen und die Betroffenen dann mit einem Tagebuch und ein paar glücklichen Gedanken nach Hause zu schicken, sollten wir lieber sagen, dass das therapeutische Zeitfenster eigentlich Wochen, wenn nicht sogar Monate, nachdem die akuten psychedelischen Effekte abgeklungen sind, andauert. Wir müssen diese Zeitspanne als sehr wertvoll betrachten und wirklich dafür sorgen, dass während dieses Zeitfensters eine Menge intensiver Fokus und therapeutische Aktivitäten stattfinden, anstatt die Patient:innen einfach fortzuschicken und auf sich allein gestellt zu lassen.

WO THERAPIE AUF „BIG PHARMA“ TRIFFT

SB: Auf welche Weise könnten diese Erkenntnisse die Behandlungsmodelle noch beeinflussen?

GD: Das spricht eine Debatte an, die derzeitim Bereich der psychedelischen Therapie geführt wird. Die Pharmaunternehmen sind sehr von der Idee eingenommen, dass, wenn wir die Mechanismen dieser Drogen auf pharmakologischer Ebene verstehen, wir schließlich ein Medikament entwickeln können, das den entsprechenden Mechanismus zur Heilung von Depressionen oder PTBS oder was auch immer aktiviert. Damit können wir dann alle unangenehmen psychedelischen Nebenwirkungen ausschalten. Die psychedelische Reise kann wegfallen, oder? Genau das ist deren Traum.

Auf der anderen Seite gibt es dann noch die Psycholog:innen, die sagen: „Nein, das kann nicht richtig sein, denn wir wissen, dass wir diese psychedelischen, therapeutisch wirksamen Effekte sogar ohne die Droge erreichen können, solange wir die Personen an diesen mystischen Ort bringen können. Wir können es mit Meditation erreichen, wir können es mit ein bisschen Breathworkerreichen, usw. Außerdem korreliert die Stärke dieser mystischen Erfahrung mit der Effektstärke der therapeutischen Wirksamkeit.“

Das sind also die beiden Seiten der Debatte. Und ich denke, unsere Erkenntnis über die Setting-Abhängigkeit von Psychedelika bei der Eröffnung der kritischen Phase bietet eine Art Mittelweg zwischen diesen beiden Sichtweisen. Sie zeigt, dass die Bindung der Droge an den Rezeptor eine kritische Phase eröffnet – das ist der pharmakologische Effekt, nach dem die Pharmaunternehmen so verzweifelt gesucht haben. Unsere Hypothese ist, dass genau das der Mechanismus ist. Jedes Medikament oder jede Manipulation, die die kritische Phase wieder öffnen kann, hat das Potenzial für diese therapeutische Wirksamkeit. Aber darüber hinaus bedeutet die Abhängigkeit vom Setting für mich, dass das, was die psychedelische Reise und das Setting tun, ist, das Gehirn so vorzubereiten, dass die richtige Erinnerung und der richtige Schaltkreis in diesem offenen Zustand reaktiviert oder für Modifikationen verfügbar gemacht werden kann.

Es ist ein Mittelweg zwischen den zwei unterschiedlichen Ansichten darüber, wie die Substanz wirkt. Und ich denke, es sagt tatsächlich aus, dass wir uns bei der Evaluation einer potenziellen Hypothese oder eines neuen Wirkstoffs oder einer neuen Art, diese klinischen Studien durchzuführen, mit folgender Frage auseinandersetzen müssen: „Öffnen wir die kritische Phase und triggern wir effektiv das relevante Engramm?“ Denn wenn wir keines dieser beiden Dinge tun, wird es nicht funktionieren.

ZUKÜNFTIGE RICHTUNGEN

Es bleibt abzuwarten, ob die Wiedereröffnung der kritischen Phase zu einem bewussten Ziel psychedelischer Therapien wird, insbesondere, da andere Labore beginnen, nicht-halluzinogenen synthetischen Versionen3 psychedelischer Substanzen therapeutische Wirksamkeit zuzuschreiben. Unabhängig davon scheint es ein bedeutendes, ungenutztes therapeutisches Potenzial zu geben, das es in den Monaten nach einer psychedelischen Standardbehandlung zu erkunden gilt. Im Fall von PTBS könnte sich dieses Zeitfenster als unschätzbar erweisen. Im Fall von Autismusstörungen, die nicht allgemein als Krankheit angesehen werden, ist die Diskussion komplexer. Während die Annahme, Autismus „heilen“ zu können, in Frage gestellt wurde und auch weiterhin in Frage gestellt werden sollte, z.B. durch die Frage, ob es ethisch vertretbar ist, Kernaspekte der Persönlichkeit eines Menschen grundlegend zu verändern,, stellt Dölens Arbeit einen entscheidenden Beitrag auf diesemGebiet für diejenigen dar, die eine Behandlung in Betracht ziehen.

 


Disclaimer: Dieser Blogpost wurde von Volontären übersetzt und editiert. Die Mitwirkenden repräsentieren nicht die MIND Foundation. Wenn Ihnen Fehler oder Unklarheiten auffallen, lassen Sie es uns bitte wissen – wir sind für jede Verbesserung dankbar (mailto:[email protected]). Wenn Sie unser Projekt zur Mehrsprachigkeit unterstützen wollen, kontaktieren Sie uns bitte um der MIND Blog Translation Group beizutreten!

REFERENCES

1.  N  ardou, R., Lewis, E., Rothhaas, R., Xu, R., Yang, A., Boyden, E. and Dölen, G., 2019. Oxytocin-dependent reopening of a social reward learning critical period with MDMA. Nature, 569(7754), pp.116-120.

2. Dölen, G. and Bear, M., 2009. Fragile x syndrome and autism: from disease model to therapeutic targets. Journal of Neurodevelopmental Disorders, 1(2), pp.133-140.

3. Cameron LP, Tombari RJ, Lu J, Pell AJ, Hurley ZQ, Ehinger Y, et al. A non-hallucinogenic psychedelic analogue with therapeutic potential. Nature. 2020;589(7842):474–9.


Back