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Die Verschmelzung Von Biologie Und Psychotherapie In Der Psychiatrie

Ein Interview Mit Collin Reiff, MD

Während psychedelika versuchen, ihren platz in der psychiatrie zu finden, ist die psychiatrie immer noch dabei, ihren platz in der gesellschaft zu finden.

In der MIND Bioblog-Serie stellen wir Persönlichkeiten vor, die Einfluss auf die Entwicklung psychedelischer Therapie, Forschung sowie der Kultur im Umfeld der psychedelischen Erfahrung haben. Collin Reiff, MD, ist Assistant Professor für Psychiatrie an der New York University Grossman School of Medicine, wo er sich in der Steven A. Cohen Military Family Clinic auf die Behandlung von Traumata und Substanzgebrauchsstörungen spezialisiert hat. Er ist Co-Autor zahlreicher Buchkapitel und Peer-Reviewer für Veröffentlichungen über psychedelische Substanzen. Sein Paper Psychedelics and Psychedelic-Assisted Psychotherapy, welches er zusammen mit der Work Group on Biomarkers and Novel Treatments, einer Abteilung des American Psychiatric Association Council of Research, wurde kürzlich im American Journal of Psychiatry veröffentlicht. . Im folgenden Gespräch erläutert Reiff seine Gedanken über die psychedelische Renaissance in der Psychiatrie.

Saga Briggs (SB): Manch eine/r würde sagen, dass die Psychiatrie als medizinisches Fachgebiet, im Vergleich zu anderen, seit Jahrzehnten keine Fortschritte gemacht hat und dass Psychedelika für die Psychiatrie das leisten könnten, was das Mikroskop für die Biologie geleistet hat. Halten Sie das für eine realistische Einschätzung?

Collin Reiff (CR): Die Psychiatrie unterscheidet sich von anderen Fachgebieten der Medizin. Das liegt daran, dass wir vieles über den Geist und das Gehirn sowie dessen Funktionsweise immer noch nicht wissen. Ursprünglich begann es mit der Anatomie in den späten 1800er Jahren. Mit der Zeit entwickelte sich daraus die Psychotherapie. Dann ging es zurück zur Anatomie und Biologie. Egas Moniz gewann den Nobelpreis für die Lobotomie, weil er glaubte, dass eine Veränderung der Anatomie und der Strukturen des Gehirns Auswirkungen auf den Geist haben würde. Heute denken wir: “Das war eine furchtbare Sache, wie konnten wir das tun?” Dann entwickelten sich die Dinge in Richtung Psychotherapie. In den achtziger und neunziger Jahren ging es wieder zurück zur Biologie, mit der Vorstellung, dass Neurotransmitter auf bestimmte Rezeptoren im Gehirn wirken und dass ein Mangel oder Überfluss zu Depressionen oder Psychosen führt. Teile davon sind wahr. An und für sich ist es jedoch ein wenig reduktionistisch.

Aber wenn man darüber nachdenkt, hat die Psychiatrie mit vielen Dingen zu tun, über die wir nicht sprechen und die man leicht übersehen kann, wie zum Beispiel die Frage, ob wir einen Sinn und ein Ziel im Leben haben. Ich glaube nicht, dass viele diagnostische Beurteilungen danach fragen. Denken wir über die Geschichte der Welt nach und darüber, welche Bedürfnisse der Menschheit zu einem bestimmten Zeitpunkt befriedigt werden und wie sie sich verändern? Gibt es einen Grund dafür, dass heute so viele Menschen mit ADHS diagnostiziert werden? Liegt es an dem Druck, der auf den Menschen lastet, wenn sie stundenlang am Schreibtisch sitzen und am Computer arbeiten? Ich glaube, es werden mehr Diagnosen gestellt, weil immer mehr Menschen sagen: “Hey, es fällt mir schwer, mich an eine Welt anzupassen, die sich immer schneller verändert.” Wir können uns die Psychiatrie als eine Praxis vorstellen, die das Leiden der Menschen lindert, die es ihnen ermöglicht, ein erfüllteres Leben zu führen, das besser mit ihren Wünschen harmonisiert, und die dazu beiträgt, den Geist zu justieren. Die Psychiatrie entwickelt sich mit der Gesellschaft weiter. Ich bin gespannt, was Psychedelika uns über unseren Verstand lehren werden.

SB: Welche Rolle spielen Psychedelika in diesem Zusammenhang derzeit? Sehen Sie, dass sie uns ermutigen, einigen dieser tieferen Fragen innerhalb der Psychiatrie und der Medizin im Allgemeinen mehr Aufmerksamkeit zu schenken?

CR: Ich glaube nicht unbedingt, dass wir die Mittel haben, um das zu erfassen, was im Moment passiert. Wir zwingen die Psychedelika in Maßstäbe, die möglicherweise nicht die gesamte psychedelische Erfahrung und ihre Vorteile und Risiken erfassen. In gewisser Weise werden Psychedelika die Psychiatrie und Psychologie dazu zwingen, sich weiterzuentwickeln. Immer wenn es heißt: “Hey, wir sind nicht sicher, was passiert”, ist es ratsam, zu beobachten. Mir fällt immer wieder auf, dass unsere Depressionsinventare in der Psychiatrie, der PHQ-9, der BDI, der HAM-D und der MADRS, nicht danach fragen, ob die PatientInnen einen Sinn, ein Ziel oder eine Struktur im Leben haben. Die Frage ist, ob Psychedelika einen Platz in der Psychiatrie und Medizin haben. Für eine ausgewählte Gruppe von PatientInnen könnten sie das. Die derzeitigen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass MDMA bei der Behandlung von PTBS durchaus sinnvoll ist. Psilocybin scheint für Menschen hilfreich zu sein, die mit Depressionen, existenziellen Problemen im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten, Substanzgebrauchsstörung, Burnout und Demoralisierung zu kämpfen haben. Dies bedeutet keineswegs, dass jede/r Psychedelika einnehmen sollte.

SB: Wie wird sich die Psychiatrie Ihrer Meinung nach weiterentwickeln, vielleicht mit Hilfe von Psychedelika?

CR: Es kann hilfreich sein, die Psychiatrie historisch zu betrachten, und zwar im Hinblick auf Behandlungen, die vielleicht nicht „psychiatrischer“ Natur sind. Nehmen wir zum Beispiel das türkische Bad, bei dem man den Körper erwärmt. Es gibt Hinweise darauf, dass eine hyperthermische Erfahrung die Stimmung heben kann. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum sich Saunen und türkische Bäder in Europa und im Nahen Osten seit so vielen Jahren halten. Wenn wir uns etwas wie Meditation ansehen: Kann man damit Depressionen behandeln? Ich weiß es nicht, aber es gibt einen Grund dafür, dass es sie schon so lange gibt. Das Gleiche gilt für Psychedelika, die in Mittel- und Südamerika sowie in Afrika bei schamanischen Praktiken verwendet wurden. Sie haben Auswirkungen auf den Geist, aber es gibt auch eine physiologische Komponente. Ich glaube fest daran, dass es eine Verbindung zwischen Geist und Körper gibt. Ich weiß nicht, ob wir dem Körper in der Psychiatrie genug Aufmerksamkeit schenken; wir konzentrieren uns eher auf den Geist. Wenn man sich eine Krankheit wie die bipolare Störung I ansieht, stellt man fest, dass jemand, der sich in einer Manie befindet, tendenziell mehr Energie hat. Manchmal können sich Menschen körperlich mehr anstrengen, als es für sie normal ist. Menschen können über längere Zeiträume wach bleiben, ohne zu schlafen. Der Geist steuert eine körperliche Reaktion. Sie sind miteinander verbunden. Ich sage das, weil ich denke, dass die Psychiatrie im Allgemeinen davon profitieren könnte, wenn sie das größere Bild betrachten und meiner Meinung nach der Geschichte mehr Aufmerksamkeit schenken würde. Alles einfach nur als Neurotransmitter zu betrachten, ist reduktionistisch. Das haben wir in den neunziger Jahren getan. SSRI haben sich nicht annähernd als so wirksam erwiesen, wie wir glaubten, dass sie es sein würden. Sie wirken bei einigen Menschen, aber sie haben das Problem nicht gelöst, und wir versuchen immer noch, es herauszufinden. Warum also nicht mit Neugierde Psychedelika erforschen?

SB: Obwohl wir das Gleiche in einem Jahrzehnt auch über Psychedelika sagen könnten…

CR: Stimmt, es herrscht gerade eine psychedelische Überschwänglichkeit. Und es liegt in der menschlichen Natur, etwas auf ein Podest zu heben. Mit der Zeit stoßen wir es dann wieder vom Sockel. Realistischerweise werden wir bei Psychedelika einen Mittelweg finden. Davon bin ich überzeugt. Sie werden bei einigen Dingen wirksam sein und bei anderen wahrscheinlich nicht, und wahrscheinlich wird es mit der Zeit Kontraindikationen geben. Es kommt sehr selten vor, dass ein Mittel für alle wirkt. Das ist ein Warnsignal – wenn es ein “Allheilmittel” gibt, das bei allen Beschwerden wirkt. Ich vermute, dass Psychedelika für bestimmte Krankheiten in der Psychiatrie und Medizin wirksam sein werden.

SB: Wie wichtig ist es, die Mechanismen zu verstehen, die dieser Wirksamkeit zugrunde liegen?

CR: Jüngste Neuroimaging Studien deuten darauf hin, dass Psychedelika mit einer verbesserten kognitiven Flexibilität in Verbindung stehen. Es gibt wirklich spannende Arbeiten und es ist, als ob sich die Teile des Puzzles langsam zusammenfügen. Die Verbesserung unseres Verständnisses der Neurowissenschaften ist sehr wichtig, aber für mich geht es im Moment mehr darum, herauszufinden, ob diese Substanzen das Leben der Menschen verbessern und verlängern können. Ein großes Hemmnis für Psychedelika ist derzeit, dass es keinen allgemein anerkannten Ansatz für die Psychotherapie gibt. Vieles, was heute in der Psychotherapie geschieht, ist nicht-direktiv und basiert auf Therapien, die in den 1960er Jahren angewandt wurden. Dieser Ansatz scheint zu funktionieren…

SB: Aber es gibt keine Grundlage für einen Vergleich.

CR: Ganz genau. Was würde passieren, wenn wir verschiedene Ansätze ausprobieren würden? Was würde passieren, wenn man PatientInnen MDMA in Verbindung mit einer Langzeit-Expositionstherapie behandelt oder es in den Rahmen einer psychodynamischen oder psychoanalytischen Behandlung stellt, bei der jemand während seiner Behandlung mit dem/der TherapeutIn, mit dem er fortlaufend zusammenarbeitet, mehrmals im Jahr eine dieser Substanzen einnimmt? Und was passiert, wenn wir diese Präparate zur Verbesserung bereits etablierter evidenzbasierter Psychotherapien einsetzen? Können wir sie als Katalysator für Psychotherapien einsetzen? Ich frage mich, wie diese Therapien aussehen werden, wenn sie für die breite Öffentlichkeit zugänglich werden. Vielleicht sind Psychedelika für manche Menschen einfach nur ein Teil der Behandlung.

SB: Besteht Ihrer Meinung nach die Gefahr, dass Psychedelika zu einem reduktionistischen Verständnis von Diagnosen führen?

CR: Wir werden nicht reduktionistischer. Wir werden immer anspruchsvoller. Wir stellen Fragen. Wir sind neugierig. Diese Präparate bringen uns dazu, Fragen über die Funktionsweise des Geistes, über die Neurowissenschaften und über unsere Behandlungen zu stellen…

SB: Ich denke, der Gedanke, der hinter der Frage stand, ist, wo wir den Schwerpunkt setzen. Wenn wir zum Beispiel hören, dass Psychedelika nicht nur zur Behandlung von PTBS, sondern auch von Substanzgebrauchsstörungen eingesetzt werden können, neigen wir dazu, zu denken: “Psychedelika müssen etwas Besonderes sein”, anstatt zu fragen: “Was ist die Verbindung zwischen PTBS und Substanzkonsumstörungen?” Natürlich weiß man, dass es einen Zusammenhang gibt. Aber das ist nicht unbedingt die Botschaft, die der allgemeinen Bevölkerung vermittelt wird.

CR: Neuroimaging-Studien von Robin Carhart-Harris et al. deuten darauf hin, dass Psychedelika die Konnektivität in bestimmten Regionen des Gehirns während der Psilocybin-Sitzung und bis zu drei Wochen danach verbessern. Sie haben einen anderen Wirkmechanismus als SSRI. Aus der Neuroimaging-Perspektive ist dies ein Teil der Besonderheiten von Psychedelika und dies könnte erklären, warum sie von Stanislav Grof als “universelle Verstärker” bezeichnet werden.

Eine der größten Herausforderungen, die die Versorgung in der Psychotherapie und Psychiatrie einschränkt, besteht darin, dass eine qualitativ hochwertige Versorgung oft zeit- und arbeitsintensiv ist. Sie erfordert, dass man dem/der PatientIn zuhört und mit ihm zusammenarbeitet, um herauszufinden, was in seinem Leben nicht funktioniert. Und dann muss ein Plan entwickelt werden, wie der Konflikt, die negativen Erkenntnisse oder Gefühle gelöst werden können. Ein Teil dessen, was Psychedelika interessant und wichtig macht, ist, dass sie die Wahrnehmung auf eine Weise verändern können, die Neugier fördert und die psychischen Grenzen öffnet. Aus einer systemischen Perspektive können sie einem/einer PatientIn helfen, aus der Rolle des/der Überlebenden herauszukommen und relativ schnell in die Rolle des Entdeckers zu gelangen. Wenn wir sie durch eine psychoanalytische Linse betrachten, könnten wir sagen, dass sie den Widerstand verringern und dem/der PatientIn erlauben, herausfordernde Gedanken oder Gefühle zu erforschen, die normalerweise verdrängt oder unterdrückt werden. So können beispielsweise Schuld- oder Schamgefühle aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche kommen und relativ schnell verarbeitet werden. Psychedelika scheinen auch die Übertragung zu erleichtern, ein Schlüsselprinzip in der Psychotherapie. Es ist in der Psychoanalyse und bei dynamischen Behandlungen von größter Bedeutung. Das bedeutet auch, dass die TherapeutInnen gut ausgebildet sein sollten und Grenzen klar einhalten müssen, damit keine Grenzverletzungen auftreten.

SB: Während also einige Aspekte dieser Therapie effizienter sein könnten, werden andere Aspekte noch mehr Aufmerksamkeit und Sorgfalt erfordern und möglicherweise einen noch größeren Schwerpunkt auf das Individuum.

CR: In gewisser Weise könnten wir sagen, dass Psychedelika es der Psychiatrie ermöglichen, unglaublich individualisiert zu sein. Wenn man an die Psychoanalyse denkt, so war sie eine Behandlung, die für wohlhabende Männer in Europa entwickelt wurde. Sie war für die meisten nicht wirklich zugänglich. Antidepressiva, Stimmungsstabilisatoren und Antipsychotika haben die Behandlung von Depressionen, Angstzuständen, bipolaren Störungen und Psychosen ermöglicht. Sie können sehr hilfreich sein und haben dazu beigetragen, die Psychiatrie weiterzuentwickeln und das Leben vieler Menschen zu verbessern. Dennoch müssen wir uns weiterentwickeln und sollten neugierig bleiben. Ich gehe davon aus, dass Psychedelika mit der Zeit einen wichtigen Platz in der Medizin und Psychiatrie einnehmen werden.

Disclaimer: Dieser Blogpost wurde von Volontären übersetzt und editiert. Die Mitwirkenden repräsentieren nicht die MIND Foundation. Wenn Ihnen Fehler oder Unklarheiten auffallen, lassen Sie es uns bitte wissen – wir sind für jede Verbesserung dankbar (mail to: [email protected]). Wenn Sie unser Projekt zur Mehrsprachigkeit unterstützen wollen, kontaktieren Sie uns bitte um der MIND Blog Translation Group beizutreten!


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