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Trauma mystischer Erfahrung

Eine Untersuchung phänomenologischer Ähnlichkeiten zwischen Trauma und mystischer Erfahrung

„Die kosmische Liebe ist absolut erbarmungslos und höchst gleichgültig. Sie lehrt ihre Lektionen,  ob sie einem gefallen oder nicht.“ ~ John C. Lilly

Auf den ersten Blick scheint es vielleicht so, als gäbe es keine phänomenologischen Ähnlichkeiten zwischen traumatischen und mystischen Erfahrungen. Erstere neigen dazu, sich tief erschütternd bis katastrophal auszuwirken, wiederkehrendes Leiden zu katalysieren und die erfahrende Person für einen langen Zeitraum zu beeinträchtigen. Über letztere wird oft angenommen, dass sie eitel Sonnenschein wären, Wellen der Glückseligkeit, die aus einem vereinten Epizentrum plätschern, von dem die erfahrende Person zufällig Teil ist.

Während ich weder den Wahrheitsgehalt dieser Erfahrungen in Abrede stelle, noch die Tatsache, dass Trauma und mystische Erfahrung für viele Menschen zwei voneinander gänzlich verschiedene Dinge sind, die sich nicht überschneiden, ist dieser Essay eine kurze Untersuchung der gegenteiligen Behauptung: nämlich, dass Trauma und mystische Erfahrung phänomenologisch ähnlich, wenn nicht sogar identisch sind. Ich beabsichtige weder zu behaupten, dass jedes Trauma mystisch, noch, dass eine mystische Erfahrung immer traumatisch  sei. Es geht mir auch nicht darum, die Relevanz mystischer Erfahrungen in der Traumabehandlung darzulegen (obwohl es immer mehr Hinweise auf eine solche Relevanz gibt) . Ich hoffe lediglich zu erkunden, inwiefern, wenn wir uns auf die Suche danach machen, was genau einen mystischen Moment des Erwachens ausmacht, die gelebte Erfahrung davon so weit von eitel Sonnenschein entfernt sein könnte wie nur möglich; dass diese gelebte Erfahrung selbst traumatisch sein kann.

Was macht eine traumatische Erfahrung aus?

Zu Beginn werfen wir einen Blick auf das, was eine traumatische Erfahrung ausmacht. Laut dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5 (DSM-5; deutsch: „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“), beinhaltet eine traumatische Erfahrung „Tatsächlichen oder  drohenden Tod, ernsthafte Verletzungen oder sexuelle Gewalt“ gegen sich selbst oder eine nahestehende Personund wird zwangsläufig von einer Vielzahl von Symptomen begleitet, die die behaviorale, psychologische, emotionale und soziale Funktionsweise betreffen können. Man könnte sagen, dass als ein Trauma alles gelten kann, was die erfahrende Person angesichts einer realen oder wahrgenommenen Bedrohung vorübergehend machtlos macht. Die Nachwirkungen eines traumatischen Erlebnisses sind häufig Symptome, welche mit der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder der Akuten Belastungsreaktion (ABR) in Verbindung gebracht werden. Diese Reaktionen können physiologisch, sozial, psychologisch und theologisch oder spirituell erforscht werden.

Um Traumareaktionen auf einem physiologischen Level zu verstehen, wenden wir uns der Forschung des renommierten Traumatologen Peter Levine, Ph.D., zu, dem Begründer des innovativen Ansatzes zur Traumabehandlung namens Somatic ExperienceTM. Laut Levine sind „traumatische Erfahrungen größtenteils das Ergebnis primitiver Reaktionen“2, was bedeutet, dass die Symptome, die Menschen nach einem Trauma erleben, aus natürlichen, evolutionär   zweckmäßigen, physiologischen Körperreaktionen resultieren. Als Reaktion auf eine Bedrohung kämpft, flieht oder erstarrt („fight, flee, or freeze“) der Körper. Alle Tiere, auch menschliche, begegnen überwältigenden Bedrohungen instinktiv mit derartigen Reaktionen als Schutzmechanismen, um den Tod zu vermeiden.. Wenn der angegriffene Körper die natürliche, instinktive Schutzreaktion nicht vollständig durchleben kann, kann der Eindruck einer Bedrohung bestehen bleiben.

In Levines Worten: „Trauma ist eine intensive, nicht abgeschlossene biologische Stressreaktion auf Bedrohung, die mit der Zeit erstarrt.“2

Die von mir angesprochenen Reaktionen „fight, flight or freeze” (deutsch: kämpfen, fliehen oder erstarren), werden den meisten Lesern und Leserinnen bekannt sein. Levine spricht hier über primitive Arten der Reaktion. Eine vierte davon, das sogenannte  „fawn“ (deutsch: das Einschmeicheln),  wurde erst kürzlich beschrieben und wird nun ebenfalls von Traumatolog:innen untersucht. Kämpfen („fight“) bedeutet, sich  angesichts der Bedrohung aufzubauen und einen vermutlich erfolgreichen Gegenangriff vorzubereiten. Fliehen („flee“) bedeutet, vor einem Angriff wegzulaufen, während Erstarren („freeze“) heißt, in eine vorübergehende Paralyse zu verfallen (wie ein Reh im Scheinwerferlicht), und Einschmeicheln („fawn“) meint, der angreifenden Person in einem unbewussten Wettstreit um Sympathie oder Sicherheit nachzugeben(z.B. Stockholm-Syndrom). In freier Wildbahn, wenn bei Tieren eine dieser Reaktionen ausgelöst wurde, können sie auf natürliche Weise die enorme energetische Wirkung der Reaktion entladen, sobald die Bedrohung vorüber ist. . Sie tun dies, indem sie sich schütteln oder zittern, Laute von sich geben oder auf eine andere Weise einen Teil ihrer körperlichen Energie „abladen“. Laut Levines Forschung kann ein Trauma durch diese Entladung integriert, und das Risiko für eine Entwicklung belastender Symptome, verringert werden. Als Menschen wurden wir jedoch durch eine Kultur der Hyperrationalität auf Dissoziation – die Abkoppelung von  unseren physiologischen Reaktionen – konditioniert. Das bedeutet, dass überschüssige Energie als Nachwirkung im Körper einer traumatisierten Person angestaut bleiben kann, wie eine zusammengepresste Feder, die sich nicht lösen und wieder ausdehnen kann. Nach dieser Theorie ist es die angestaute, unintegrierte Energie, die zu vielen der  Symptome führt, die bei einer posttraumatischen Reaktion auftreten.

Über die physiologische Reaktion hinaus, beeinflusst uns Trauma auch emotional, psychisch und spirituell. Laut Donald Winnicott, einem Pionier auf dem Gebietder Kinderpsychologie, raubt das Trauma der erfahrenden Person ihre subjektive Omnipotenz, d.h., ihre wahrgenommene Macht und Autonomie, was sie vorübergehend unfähig macht, sich aktiv mit ihrer Umgebung auseinanderzusetzen. Das kann sich wie eine starke Desillusionierung der Identität anfühlen, in der die wahrgenommene Dominanz im eigenen Leben in Frage gestellt wird.3 Ohne ein subjektives „Ich“ fehlt es an der nötigen Ausstattung für die Auseinandersetzung mit der Welt außerhalb des „Ich“. Das führt zu dem, was Heinz Kohut „disintegration anxiety“ (deutsch: Angst vor der Auflösung) nannte, oder, in den Worten des Jungianers Dr. Donald Kalsched, „ein unbeschreibliches Furchtgefühl, das mit der drohenden Desillusionierung des kohärenten Selbst verbunden ist.“5 Das Fehlen eines kohärenten Selbst führt zu einer verminderten Fähigkeit, den eigenen Erlebnissen eine symbolische Bedeutung zu geben, da die Bedeutung äußerer Ereignisse aus deren Beziehung zur eigenen inneren Welt resultiert und umgekehrt. Ein Trauma kann die Fähigkeit, sich mit dem inneren Erleben zu verbinden oder eine Brücke vom Inneren zum Äußeren zu schlagen, vorübergehend außer Kraft setzen und somit das Potenzial für Sinnfindung, Einsicht, Mitgefühl und sogar Transzendenz auslöschen. Auf diese Weise hat ein Trauma weitreichende psychische Folgen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Trauma alles ist, was uns mit unserer Verletzlichkeit, mit dem Tod, konfrontiert. Die Folgen dieser Erfahrung sind oft eine schwer überwindbare Distanzierung gegenüber sich selbst; das Gefühl, die eigene Identität verloren zu haben; unerklärliche, hinderliche und oft gewaltsame Überwältigung durch reaktive Impulse; ein tiefgreifender Verlust der eigenen Fähigkeit zur Sinngebung; chaotisches Erleben und schmerzhafte körperliche Symptome, die scheinbar ohne Ursache auftreten.

Was macht eine mystische Erfahrung aus?

Im Zuge der aktuellen psychedelischen Renaissance haben wir neue Erkenntnisse in Epistemologie, Ontologie und Phänomenologie zum Verständnis und zur Untersuchung mystischer Erfahrungen gewonnen. Dies hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt geschehen können, denn in dieser hypermodernen Welt, die eine Trennung von Selbst, anderen und der Natur als normal erscheinen lässt, erfahren wir kollektiv die Malaise von spirituellem Bankrott und Bedeutungslosigkeit. Doch trotz der Tatsache, dass Psychedelika ein Fenster zu mystischen Erfahrungen öffnen, stammt vieles von dem, was wir über solche Zustände wissen, aus den Bereichen der Theologie, Anthropologie sowie Psychologie und ist demnach weitaus älter als die aktuelle psychedelische Renaissance.

Eine mystische Erfahrung gilt als eine der wenigen nicht-alltäglichen Bewusstseinszustände  (orig. ‘non-ordinary states of consciousness’ ,NOSC; von manchen auch als ‘altered states of consciousness’,ASC (deutsch: veränderte Bewusstseinszustände) bezeichnet, insbesondere wenn die Bewusstseinsveränderung als Folge einer Substanzeinnahme auftritt) betrachtet. Zu den anderen NOSCs zählen Flow-Zustände,), meditative oder kontemplative, sowie psychedelische Zustände (daher das aktuelle Interesse im Zuge der psychedelischen Renaissance). NOSCs werden laut dem Religionswissenschaftler Mircea Eliade auch durch sogenannte „sakrale Praktiken“6 ausgelöst. Damit beschreibt er Trance-induzierende Techniken, welche von schamanischen Kulturen weltweit eingesetzt werden, um sich mit spirituellen Dimensionen der Existenz auseinanderzusetzen: Zustände der Ekstase, die Vereinigung mit  transpersonalen Sphären und Reisen in die Unterwelt. Diese Techniken umfassen unter anderem das Tanzen, Trommeln, Singen, Fasten, Rituale und die Einnahme pflanzlicher Heilmittel.

Auch wenn wesentliche Merkmale einer mystischen Erfahrung unbeschreiblich bleiben (was den Diskurs darüber manchmal ziemlich verworren macht), werde ich mich für den Zweck dieses Artikels Henri Bergson, Aldous Huxley, William James, Jeffrey Kripal, Carl Jung, Houston Smith und vielen anderen Stimmen anschließen und die Theorie eines „reducing valve“ (deutsch: Reduktionsventil) vertreten:  Dies beschreibt die Annahme,  dass die vorherrschende Funktion des Gehirns darin besteht, den Zugang zu einem erweiterten Bewusstsein zu begrenzen. Laut den befürwortenden Stimmen dieser Theorie, können die von Eliade erläuterten sakralen Praktiken, dieses Reduktionsventil  im Gehirn effektiv abschwächen und eine vermeintlich apriorische Realität hinter oder unter diesem Ventil freilegen. Demnach lösen NOSCs keine mystischen Erfahrungen aus, genauso wenig wie ein Radiokanal die Frequenz erzeugt, die er empfängt. Mit anderen Worten – eine mystische Erfahrung entsteht durch die Entfernung von etwas nicht durch das Hinzufügen von etwas anderem. Dieses „Etwas“, das für ein unerwartetes Herunterfahren anfällig ist, könnte als „Ego“ bezeichnet werden, obwohl ich glaube, dass diese Idee ein bisschen zu rationalistisch und reduktionistisch ist, um die ganze Geschichte erzählen zu können.

Nach dieser Theorie liegt dem Bewusstsein während des normalen Wachzustandes eine apriorische „unmittelbare Leuchtkraft“7, ein „Mind-at-large“8 (deutsch in etwa: ein größtmögliches Bewusstsein) oder eine „kosmische Ordnung“9 zugrunde, von welcher wir üblicherweise durch einen Standard- oder „default“-Ruhezustand ausgeschlossen sind. Während einer mystischen Erfahrung kann man einen Blick auf diese weitreichendere Realität erhaschen, die sehr wohl alle unserer bislang angenommenen rationalen Überzeugungen darüber, was real ist und was nicht, herausfordern kann.

Bergson vermutet, dass die Funktion des Reduktionsventils darin besteht, den bewussten Zugang zu dem verflochtenen Netz der Realität zu jedem beliebigen Zeitpunkt einzuschränken, damit wir nicht überwältigt werden von der allgegenwärtigen Flut potenziell bedeutsamer Verknüpfungen, die sich um uns herum winden, verflechten, tanzen und uns ausweichen. Neurowissenschaftliche Untersuchungen über die Auswirkung von Psychedelika auf das Gehirn, sprechen für die Theorie, dass das sogenannte Default Mode Network (DMN; deutsch: Ruhezustandsnetzwerk oder neuronales Netzwerk für die Aufrechterhaltung kortikaler Generalprozesse), möglicherweise mit Bergsons Reduktionsventil korreliert, da Neuronen im DMN Informationen aktiv austauschen während das restliche Gehirn von allem anderen abgekoppelt ist .10 Das DMN ist eine Ansammlung funktionell verbundener Gehirnareale, die an der Verarbeitung von Informationen über das Selbst beteiligt sind und von denen angenommen wird, dass sie gemeinsam als eine Art zugrundeliegender Identitätsgenerator fungieren.11 Dieses neuronale Netzwerk scheint auch aktiv zu sein, wenn Gedanken abschweifen (‘mind wandering’), wie Hirnscans von Menschen in meditativen (nicht-geistesabschweifenden; ‘non-mind-wandering’) Zuständen zeigen, die eine geringere Aktivität im DMN aufweisen..12

Es könnte sein, dass diese „default“-Funktionsweise das Bewusstsein mit der Behauptung eines „Ichs” beschäftigt hält, welches zwangsläufig begrenzt und viel kleiner als die zugrunde liegende Realität ist. Während einer mystischen Erfahrung, ob psychedelisch bedingt oder nicht, scheint eine der wichtigsten neurologischen Veränderungen darin zu bestehen, dass die Tätigkeit des DMN vorübergehend unterdrückt wird. Dies erzeugt einen Zustand „vorübergehender Hypofrontalität“13, in dem es sich so anfühlen kann, als ob der Verstand nicht länger durch die persönliche Identität geblendet ist und die „Pforten der Wahrnehmung“ (‘doors of perception’) offen stehen. Eine mystische Erfahrung hat, ganz unabhängig von der angewendeten transformativen Technik, gewisse universelle Eigenschaften, wie von Walter Stace erläutert. Zu ihnen gehören unter anderem die Unbeschreibbarkeit und Paradoxie, ein beständiges Empfinden von Einheit und eine vitale Gnosis oder noetische Grundhaltung, durch die die erfahrende Person scheinbar von einem Gefühl tieferer Wahrheit durchdrungen wird. .14

Die aktuelle Forschung legt nahe, dass eine psychedelisch bedingte mystische Erfahrung zu dauerhaften positiven Veränderungen im Leben von Menschen führen kann, die unter Substanzmissbrauch, „end-of-life-anxiety” (Angstzustände oder Sorgen bezüglich des bevorstehenden Todes, zum Beispiel bei unheilbar Erkrankten), oder posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Diese Veränderungen können ein höheres Maß an Offenheit und psychischem Wohlbefinden, sowie ein verringertes Ausmaß an Abhängigkeit von Drogen, Alkohol oder anderen zwanghaften und negativen Bewältigungsmustern umfassen.15

Wenn das Mystische furchtbar wird; oder, das Mysterium Tremendum

Während die Beschreibung mystischer Erfahrungen und der darauffolgenden positiven Veränderungen höchst wünschenswert klingt, möchte ich das offene Geheimnis der Mystik erkunden; nämlich, dass sich die erste Station auf dem Weg zu solchen mystischen Offenbarungen oft  als Schrecken, Grauen, Angst, Panik und Desillusionierung entpuppen kann. Der Psychiater Stanislav Grof hat nach Tausenden von LSD-Psychotherapiesitzungen mit hunderten Patient:innen die Natur dieser spezifischen Formen des Schreckens in dem, was er als „perinatale Erfahrungen“ bezeichnet, umrissen, einem Rahmenwerk, das er durch die Interpretation der Arbeit des renommierten Psychologen Otto Rank in dessen Klassiker „Das Trauma der Geburt“ erschaffen hat. Laut Grof bündeln sich perinatale Erfahrungen „in Problemen, die sich auf die fetale Existenz, die biologische Geburt, körperliche Schmerzen, Krankheit, Altern, Sterben und Tod beziehen“.16 Grof vermutet, dass Personen während einer LSD-Psychotherapiesitzung mit der viszeralen, psychischen Erinnerung des eigenen Werdens konfrontiert werden, sprich mit dem Trauma der Geburt. Laut Grof kann diese Konfrontation zu sehr realen,emotionalen, psychischen und spirituellen Schmerzen führen.

Grof erläutert die einzelnen Stadien dieser Erfahrung in vier unterschiedlichen Matrizen, die er „Basic Perinatal Matrices“ (BPM, deutsch: perinatale Grundmatrizen) nennt. Grofs Theorie darüber, warum sich diese perinatalen Erfahrungen so lebensbedrohlich anfühlen können, beruht grob gesagt darauf, dass sie die Erfahrung eines Neugeborenen während des Geburtsvorgangs widerspiegeln – sie spiegeln den unglaublichen Schock wider, den Säuglinge erleben, wenn sie in einem fruchtbaren, dunklen, (idealerweise) nahrhaften Mutterleib eingeschlossen sind und ohne große Wahlmöglichkeit plötzlich, durch eine Reihe von schmerzhaften, druckbelasteten, chemisch fremdartigen Wehen, aus eben diesem Mutterleib herausgezwungen werden. Sowohl Mutter als auch Kind erleben die Geburt häufig als qualvoll. Doch die Mutter ist mit Weitsicht ausgestattet. Säuglinge haben keine Vorahnung von dem, was mit ihnen geschieht, und so ist die Geburt für sie gleichbedeutend mit dem Sterben. Grof merkt an, dass für die Person, die eine perinatale Matrix während einer psychedelischen Erfahrung durchlebt, dieser Geburtsprozess oft in einer scheinbaren Tod-Wiedergeburtserfahrung rekapituliert wird, die derjenigen ähnelt, die sie während ihrer eigentlichen Geburt durchgemacht hat. Die Erfahrungen der BPMs reichen von überwältigenden Gefühlen des Eingeschlossenseins oder des Erstickens über entsetzliche Visionen von höllischen Gefilden und Alptraumlandschaften bis hin zu der unerschütterlichen Beharrlichkeit der Leere, welche unaufhörlich Fragen nach dem Sinn des Lebens aufwirft,, sowie scheinbar unendlichen Erfahrungen eines „das wird niemals enden“. Grof hebt außerdem hervor, dass die Befreiung von diesen schockierend dunklen Erfahrungen von den meisten Menschen oft als Leuchtkraft, Transzendenz oder strahlende, unbeschreibliche Glückseligkeit erlebt wird. In anderen Worten – die klassische, begehrenswerte mystische Erfahrung.

Die Dunkelheit, Erniedrigung und tiefe Angst, dessen Grof während seiner Tausenden an psychedelischen Psychotherapiesitzungen Zeuge wurde, sind nicht neu. Mystiker:innen aus zahlreichen Traditionen schreiben über den Schmerz des Kapitulierens, den Schrecken der Begegnung mit dem Numinosen17 oder die phänomenale Erschütterung, die eintreten muss, um den Verstand von Illusionen zu befreien. Der vielleicht berühmteste Bericht über diese Erfahrung stammt von dem christlichen Mystiker Juan de la Cruz (Johannes vom Kreuz), der in seinem Buch „Die dunkle Nacht der Seele“ mit akribischer Klarheit seinen eigenen Identitätsverlust bzw. die Entdeckung der Gottheit beschreibt. In der Tat wird  „die dunkle Nacht der Seele”  heute recht häufig als Ausdruck verwendet, um sich auf die notwendige Verdunkelung zu beziehen, die auf vielen verschiedenen spirituellen Reisen auftritt.

Prof. Christopher Bache, Professor für Religionswissenschaften an der Youngstown State University und Autor von „LSD and the Mind of the Universe“ (deutsch in etwa: „LSD und der Verstand des Universums“), schrieb einen Artikel, in dem er Grofs perinatale Grundmatrizen mit dieser „dunklen Nacht der Seele“ vergleicht. In diesem AArtikel wird ein solcher reinigender Aspekt sowohl von Juan de la Cruz über die Via Negativa (d.h., über den negativen Weg oder den Weg der Entziehung, der Befreiung von allem, was zwischen dem Selbst und Gott steht, der Reinigung von Falschheit) als auch durch  Grofs Beschreibung der Konfrontation mit Höllenwelten, die hunderte Patient:innen erlebt hatten, dargestellt. Zeile für Zeile scheint es, als ob diese Erfahrungen – sei es die Schilderung der perinatalen Erfahrung durch Grof, oder de la Cruz’ schmerzhaftes Zeugnis über die Jahre, die er in der „dunklen Nacht“ verbracht hat – eine phänomenologische Kernidentität teilen. Prof. Bache behauptet, dass es vielleicht gerade die Reinigung von aller Falschheit (d.h., der Glaube an die Illusion eines getrennten Selbst)  – etwas, das sowohl von Stanislav Grof als auch von Juan de la Cruz diskutiert wurde –, sei, die zur mystischen Erfahrung führe. Er schreibt, dass „diese radikale Reinigung notwendig ist, da, wenn man Gott sein will, alles in einem selbst entfernt werden muss, was nicht gottesähnlich ist.“18 Wenn wir uns an die oben erwähnte Theorie eines „Reduktionsventils” im Gehirn erinnern, können wir beginnen, Theorien darüber aufzustellen, was während einer mystischen Erfahrung geschehen mag. Könnte es sein, dass durch eine Art Reinigung vom konstruierten Selbst, durch das Sich-Entledigen des begrenzten Reduktionsventils während einer perinatalen Erfahrung, einem letztlich etwas Größeres gezeigt wird, das a priori hinter dem Schleier der Identität existiert?

Eine mystische Erfahrung kann traumatisch sein

Ich behaupte, dass dieser Prozess der Reinigung subjektiv und, à la Levine objektiv, traumatisch ist – sei es in einem Kontext der LSD-Psychotherapie à la Grof, beim Gang  über die Via Negativa à la Juan de la Cruz oder beim Versuch, sich auf beliebige andere Arten von Praktiken einzulassen, die einen dazu führen könnten, die eigenen rationalen Überzeugungen über Trennung des Selbst odertief verwurzelte Vorstellungen über Identität in Frage zu stellen. Um diese Aussage zu erforschen, lassen Sie uns untersuchen, wie mystische Erfahrungen als traumatisch angesehen werden könnten.

Zunächst möchte ich ein Konzept des berühmten deutschen Philosophen und Theologen Rudolph Otto vorstellen. Laut Otto beinhaltet eine Begegnung mit dem Numinosen, d.h. der selbstverständlichen, unaussprechlichen Essenz, welche vorhin schon angedeutet wurde (z.B. „unmittelbare Leuchtkraft“ usw.), immer etwas vom Mysterium Tremendum, dem gewaltigen, Ehrfurcht und Schrecken erregenden Geheimnis. Laut Otto fühlt sich diese Art von Begegnung aus der Perspektive der Identität oder des Egos lebensbedrohlich an, einen Standpunkt, den er durch die de facto Existenz einer welterschütternden Angst, die man in der Präsenz des Numinosen empfindet, untersucht.17 Diese Bedrohung des Lebens ähnelt derjenigen, die während einer traumatischen Erfahrung erlebt wird. Mystische Erfahrungen können auch lebensverändernd sein, wie einige der vorhin genannten Forschungsarbeiten deutlich zeigen.19 Eine mystische Begegnung mit dem Numinosen, welche laut Otto eine nicht unwesentliche Menge an Furcht beinhaltet, kann Veränderungen des Lebensstils katalysieren und einen dazu inspirieren, sich gänzlicher an der Mitgestaltung des eigenen Lebens zu beteiligen, sowie das Gefühl der Sinnhaftigkeit in der eigenen Psyche zu revolutionieren.17 Diese Art der Veränderung des Lebens ähnelt der Veränderung, welche nach einer traumatischen Erfahrung erlebt wird, nur ist diese Art der subjektiven Veränderung um einiges besser.

Darüber hinaus stellen mystische Erfahrungen, ebenso wie Traumata, die Auffassung der Willenskraft in Frage, wie wenn die subjektive Omnipotenz, von der Winnicott spricht, verletzt,  und die Fähigkeit, autonom zu handeln, gestört wurde oder wenn, wie Juan de la Cruz schrieb, willentliche Handlungen durch etwas vereitelt zu werden scheinen, das als göttliches Eingreifen erlebt wird. Beides kann zur Folge haben, dass man sich von früheren Hobbys, sozialen Kreisen und Verhaltensmustern entfremdet. Beide stellen eine enorme Herausforderung für bisherige Weltanschauungen, kulturelle Normen und das eigene Selbstverständnis dar. Und schließlich tragen beide eine körperliche Belastung mit sich, sei es durch die angestaute Energie früherer Erlebnisse oder durch das Loslassen von früheren Erfahrungen. Auf diese Weise lässt es sich so verstehen, dass, ähnlich wie die Dunkle Nacht des Juan de la Cruz phänomenologisch mit Grofs Beschreibung perinataler Erfahrungen verwandt ist (die während einer LSD-Psychotherapiesitzung durchlebt werden könnten), eine persönliche Begegnung mit dem Numinosen Ähnlichkeiten mit traumatischen Erfahrungen aufweist.

Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass man das Numinose nicht nachdrücklich begrüßen sollte, wenn es anklopft. Das Reduktionsventil des Verstandes selbst so weit heruntergefahren zu haben, dass die „unmittelbare Leuchtkraft“ einer direkten Erfahrung das eigene Bewusstsein durchdringen kann, hat das Potenzial, ein unermesslicher Segen zu sein, selbst wenn  die Folgen chaotisch und integrierbar erscheinen. Das bedeutet, dass, wenn das „Mind-at-large“ entdeckt wird, nicht nur die Sonnenseiten der Erfahrung zu erwarten sind, da der Körper jede Bedrohung durch den Tod als Trauma wahrnimmt und zweifellos entsprechend reagieren wird. Bedenken Sie jedoch – sollten Sie in die „dunkle Nacht“ entlassen werden – rufen Sie sich die die Worte von Peter Levine in Erinnerung: „Während ein Trauma die Hölle auf Erden ist, ist ein aufgelöstes Trauma ein Geschenk der Götter.“

Disclaimer: Dieser Blogpost wurde von Volontären übersetzt und editiert. Die Mitwirkenden repräsentieren nicht die MIND Foundation. Wenn Ihnen Fehler oder Unklarheiten auffallen, lassen Sie es uns bitte wissen – wir sind für jede Verbesserung dankbar (mailto:[email protected]). Wenn Sie unser Projekt zur Mehrsprachigkeit unterstützen wollen, kontaktieren Sie uns bitte um der MIND Blog Translation Group beizutreten!

Referenzen

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